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Katharina Schilling: Canny Codes Event
Geht in Euch!
Wir befinden uns im Kunstraum der Ferguson High School, wo die anwesenden Schülerinnen und Schüler gerade zur Interpretation einer zeitgenössischen Malerei aufgefordert wurden. Ihre Fähigkeit symbolisch zu denken steht auf dem Prüfstand.
Der Lehrer verdunkelt den Raum und schickt die Schüler auf die Suche nach einem Zugang zum kollektiven Unbewußten, wo die Übersetzung visueller Codes in Sprache gespeichert liegt.
Die Antwort liegt in der Luft! ruft er ihnen zu.
Dass etwas in der Luft liegt, ist ein volkstümlicher Ausdruck für den, wie man an dieser Schule findet, überhaupt nicht volkstümlichen Glauben an ein uns verbindendes morphisches Feld, in dem das gesamte Wissen der Menschheit, alle relevanten menschlichen Erfahrungen und Erkenntnisse, gespeichert sind. An dieser Schule wird nicht unterrichtet, hier werden alternative Wissenszugänge erforscht, hier sucht man nach Methoden, um spirituelle Empfänglichkeit bei Schülern stufenweise zu steigern, hier untersucht man die Dichotomie von Spiritualität und Intellekt.
Ein paar Kilometer weiter in einem staatlichen Schulhaus wird das gleiche Bild besprochen, die gleichen Fragen kommen auf. Der Lehrplan will es so. Aber hier wird kein Schüler dazu gedrängt, sich auf spirituelle Reisen in den Äther zu begeben. Hier rät man, bodenständig und fortschrittsgläubig, zur Befragung des kulturellen Gedächtnis. Mit anderen Worten: Telefone raus und googeln. Der Lehrer empfiehlt per Messengerdienst schnell noch ein paar Suchbegriffe: Symbolsprache, Freud, Traumdeutung.
Nur ein kleiner Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler macht mit ihren Telefonen auch das, was der Lehrer verlangt. Die anderen machen mit ihren Telefonen, was die Gewohnheit ihnen befiehlt und kassieren schlechte Noten.
Der erste Schüler meldet sich.
Rhabarber: ihn essen bedeutet Ärger am Arbeitsplatz.
Aha. Sehr gut. Noch jemand?
Eine Hand geht zögerlich nach oben.
Daumen: sich der eigenen Stärke bewusst sein.
An der Ferguson High veranlasst unterdessen der von der Ergebnislosigkeit der schnell voranschreitenden Stunde frustrierte Lehrer die Verabreichung sanfter, psychoaktiver Drogen durch die Schulschwester.
Hier steht man dem Internet nach anfänglicher Begeisterung inzwischen skeptisch gegenüber. Den Anspruch, ein überall und demokratisch zur Verfügung stehendes kulturelles Gedächtnis zu sein, hat es nach hier herrschender Auffassung verwirkt. Seit es in das Zeitalter der kabellosen Übertragung und ortsunabhängigen Zugänglichkeit eingetreten ist, verdächtigt man es darüber hinaus, ein künstliches morphisches Feld erzeugen zu wollen, eine abscheuliche Fälschung, die das echte morphische Feld verschluckt. Das menschliche Bewußtsein entwickelt sich zurück. Eine Tendenz, der man hier entgegenwirken will. Der Direktor redet von Hoffnung, die er in die Kinder setzt, von echter Wissenschaft, von Heilung.
Nach der oralen Einnahme der Droge dauert es nicht lange und die zwölfjährige Micky steht auf.
Ich verweigere die Interpretation, mir reicht es, dass es Dinge gibt, die ich nicht verstehe. Ich begnüge mich mit der Existenz von Geheimnissen. Mir fehlt die Neugier, der Glaube an die Ergründbarkeit, der Glaube an die Übersetzbarkeit von einem Zeichensystem in ein anderes. Ein gemaltes Gemüse ist ein Geheimnis.
Micky holt kurz Luft, summt eine kleine Melodie und setzt schließlich den Gedankengang fort.
Wenn synästhetischer Rausch mit der Logik des Systems kollidiert, entsteht ein Konflikt, der sich dialektisch nur schwer bewältigen lässt, in der Realität der Kunst allerdings über Synthesen gelöst werden kann. Kunst ist in der Lage, synthetische Prozesse zu simulieren, die zusammenbringen, was nicht zusammengehört. Das ist ihre große Qualität und ihre bürgerliche Pflicht.
Die Glocke läutet zur Pause. Merkwürdig, denkt der Lehrer, während die Schüler langsam das Zimmer verlassen. Merkwürdig, dass niemand den Zusammenhang von Rhabarber und Arbeitsplatzproblematik erkannt hat. Ob die Dosis zu klein gewesen ist? Was Micky da gerade losgelassen hat, war von beängstigender Destruktivkraft. Vielleicht hat er es auch nicht verstanden.
Carsten Tabel
Über die Künstlerin
Katharina Schilling (*1984, Köln) studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem das International Studio and Curatorial Program ISCP, New York (2017); das DAAD Stipendium, London (2015) und den Marion Ermer Preis (2016). Schillings Arbeiten wurden bereits in Köln, Düsseldorf, Berlin, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, Bologna, Wien und London ausgestellt.