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Vortrag: Andreas Krass - Die Wahrheit über das Geschlecht Event
Ein Ritter heiratet eine Meerfrau, sie schenkt ihm Herrschaft, Söhne und Burgen; dies aber unter der Bedingung, dass er sie samstags nicht im Bad besucht. Die Treue seiner Frau bezweifelnd, bricht er das Tabu und späht durchs Schlüsselloch – um zu entdecken, dass ihr Unterleib einer Schlange gleicht. In diesem spätmittelalterlichen Roman, der “Melusine” Thürings von Ringoltingen von 1456, enthüllt des Gatten Blick auf seine nackte Frau, dass, mit Jacques Lacan gesprochen, die Frau der Phallus ist, den der Mann hat. Denn ihr verdankt der Ritter Herrschaft, Burgen und Söhne – die kulturellen Attribute seiner Männlichkeit.
Meerfrauen – die Sirenen der Antike, Melusinen des Mittelalters und Undinen der Neuzeit – sind Embleme emphatischer Weiblichkeit. Zugleich sind ihre Geschichten Parabeln des Verstehens von Texten, das immer schon zum Scheitern verurteilt ist. Denn wer dem Gesang der Sirene begegnen will, muss sich die Ohren verstopfen (auf das Verstehen verzichten) oder an einen Mast binden lassen (auf seinem Standpunkt beharren), wenn er sich nicht an ihn verlieren will.
Andreas Kraß ist seit 2004 Professor für Ältere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Promotion und Habilitation an der LMU München. Forschungs- und Lehraufenthalte in Konstanz, Zürich, New York und Seattle. Stipendien des DAAD, der DFG, der Humboldt-Stiftung und der Max Kade Foundation. Er ist IFK_Senior Fellow.
Publikationen (u. a.): gem. mit Thomas Frank (Hg.), Tinte und Blut: Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt/Main 2008; Geschriebene Kleider: Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen 2006; (Hg.), Queer denken: Gegen die Ordnung der Sexualität, Frankfurt am Main 2003; gem. mit Alexandra Tischel (Hg.), Bündnis und Begehren: Ein Symposium über die Liebe, Berlin 2002; Stabat mater dolorosa: Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter, München 1998.