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Peter Schnyder: die "geologische" Kränkung Event
“Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens werth ist, so ist es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste, die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein Einschiebsel ist, und wer weiß, welch ein kleines […].” So gibt Heinrich Drendorf in Stifters “Nachsommer” seiner Begeisterung für die damals noch junge Disziplin der Geologie Ausdruck. Seine Begeisterung ist freilich gepaart mit einer grundlegenden Irritation über die Marginalisierung des menschlichen Lebens; mit einem faszinierten Erschrecken über die Entdeckung der geologischen “Tiefenzeit”, durch die der überschaubare, rund 6000 Jahre umfassende Zeitrahmen einer christlich verstandenen Weltgeschichte gesprengt wurde. Diese Entdeckung hatte, wie man in Anlehnung an Freud formulieren kann, eine “geologische Kränkung” zur Folge, und sie ließ im Blick auf geologische Prozesse eine ganz neue Langsamkeit erkennbar werden. Die Diskussion um die Zeitkultur der Moderne und ihre ästhetischen Implikationen ist oft einseitig auf die dramatische Beschleunigung des Lebens konzentriert – angesichts der intensiven Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts mit der Tiefenzeit wird deutlich, dass auch die Entdeckung einer unendlichen Langsamkeit von grundlegender Bedeutung ist für die Ästhetik der Moderne. Diesem Zusammenhang wird Peter Schnyder vor allem in Lektüren von Charles Lyells einflussreichen “Principles of Geology” (1830/33) und Adalbert Stifters “Der Nachsommer” (1857) nachgehen.
Peter Schnyder ist Literaturwissenschafter und war von 2002 bis 2008 Oberassistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. In seiner Habilitationsschrift beschäftigte er sich mit dem “Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels in der Zeit von 1650–1850” (erscheint 2009 bei Wallstein). Forschungsaufenthalte an den Universitäten Gießen und Berkeley. Er ist IFK_Research Fellow.
Publikationen: Die Epoche der Ver(un)sicherung. Zur literarischen Codierung der Moderne bei Kafka und Melville, in: Christine Abbt, Oliver Diggelmann (Hg.), Zweifelsfälle. Das Uneindeutige in Recht, Politik und Philosophie, Bern/Baden-Baden 2007, S. 29–45; Schillers “Pastoraltechnologie”. Individualisierung und Totalisierung im Konzept der Ästhetischen Erziehung, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft, 50, 2006, S. 234–262; gem. mit Michael Gamper (Hg.), Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfassbare Körper, Freiburg/Breisgau 2006.