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Retrospektive
»Surviving Images« Jüdisches Leben im österreichischen Kino 1921–2021
Wie ein Weichbild der Geschichte muten jene österreichischen Filme an, die in den letzten 100 Jahren jüdisches Leben und die Erinnerung daran verewigt haben. Von den im Rückblick fast beklemmend prophetisch erscheinenden jüdischen Stummfilmen der 1920er-Jahre bis zum kinematographischen Gedächtnis, welches das neue österreichische Kino dem Vergessen und Verdrängen immer wieder mit Kraft und Beharrlichkeit entgegengesetzt hat. Österreich ist ohne seine jüdische Tradition und Identität, aber auch ohne die schonungslose Aufarbeitung des Gewesenen undenkbar. Davon zeugen nicht zuletzt die Filme dieser Landvermessung.
Von Ost nach West Jüdische Identität im österreichischen Film
Rund zwanzig Jahre vor der Shoa, dem beispiellosen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung, wurde jüdisches Leben lebendiger und unmittelbarer als je zuvor in Filmen festgehalten. Vor allem auch der österreichische Stummfilm erwies sich dabei als wichtiges Medium für die Dokumentation dessen, was bald beinahe völlig ausgelöscht werden sollte. Surviving Images, Bilder, die überlebt haben, die in eine pulsierende österreichisch-jüdische Vergangenheit führen, sind heute die Nabelschnüre der Erinnerung.
Die in den Filmen sichtbar werdende jüdische Identität ist geprägt von einer historisch weit zurückreichenden Geschichte der Verfolgung und Vertreibung und einer andauernden Heimatlosigkeit. Vor allem die ostjüdische Bevölkerung lebte im Bewusstsein, überall, selbst im eigenen Schtetl, fremd zu sein. Während des Ersten Weltkrieges mussten rund 400.000 Jüdinnen und Juden aus Galizien und der Bukowina fliehen, viele davon kamen nach Wien. Die Befürchtung der alteingesessenen jüdischen Bevölkerung, dass diese Flüchtlingswelle den latenten Antisemitismus befeuern könnte, sollte sich bald bewahrheiten.
Als sich der 1878 im ukrainischen Odessa geborene und lange in den USA lebende Regisseur Sidney M. Goldin 1921 in Wien niederließ, wurde er unmittelbar mit den Kulturkonflikten rund um die von religiösen Traditionen geprägten ostjüdischen Migrant:innen konfrontiert. Goldin spürte offenbar die gesellschaftspolitische Brisanz und begann eine Produktion von Filmen mit explizit jüdischen Themen aufzuziehen. Nach den noch melodramatisch gehaltenen Streifen IHRE VERGANGENHEIT (AT 1921) und FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG (A 1922) rückte er mit OST UND WEST (A 1923) das große Thema der kulturellen Identität zwischen der Lebenswelt des ländlichen Ostens und des urbanen Westens ins Bild. Ein Geschäftsmann aus den USA reist mit seiner Tochter für eine Hochzeit in seine alte Heimat Galizien. Dort sorgen sie, die nicht einmal Hebräisch sprechen, für gehörige Irritationen. Nach einigen Missverständnissen liegt man sich am Ende in den Armen.
Im wirklichen Leben schien allerdings kaum noch Platz zu sein für solche versöhnlichen Momente. Denn der Film entsteht in der Atmosphäre des bereits eskalierenden Antisemitismus; seit 1923 finden in Wien immer häufiger antisemitische Demonstrationen statt. OST UND WEST wird dennoch ein großer Kassenerfolg und in ganz Europa gezeigt. Trotz oder gerade wegen der gesellschaftspolitischen Polarisierung avancierte Österreich neben Polen und der Sowjetunion zum damals wichtigsten Produktionszentrum für jüdische Filme.
1924 drehte Goldin mit JISKOR (AT 1924) in Wien einen weiteren Film, der in das jüdische Leben Galiziens zurückführt. Die Hauptrolle besetzte er mit Maurice Schwartz, dem Gründer des legendären Yiddish Art Theatre in New York. Am Grab des Juden Leibke referiert der Rabbi die dramatische Geschichte des Verstorbenen. Der Film erzählt in Rückblenden von Leibkes Martyrium und gibt schon einen düsteren Ausblick auf das Kommende: Die Standhaftigkeit Leibkes gegenüber der Liebe einer Gräfin wurde mit der Geiselhaft der jüdischen Gemeinde bestraft. Man vermeint, hier schon die blutige Zukunft zu sehen.
Noch klarer wurden die Folgen des Antisemitismus in DIE STADT OHNE JUDEN (R: Hans Karl Breslauer, AT 1924), einer Verfilmung des dystopischen Romans von Hugo Bettauer, vor Augen geführt. Dieser heute weltweit bekannteste österreichische Stummfilm sollte von der Wirklichkeit bald eingeholt und in trauriger Weise übertroffen werden. Kurz nach der Uraufführung des Streifens wurde Hugo Bettauer im März 1925 Opfer eines antisemitischen Attentats. Fast zeitgleich kam es zum Filmriss: Die kurze Blüte des jüdischen Stummfilms versiegte jäh – für viele Jahre blendeten die Kameras nun das jüdische Leben im österreichischen Kino aus. Noch mitten in der Schockstarre der Zäsur von 1945 rief DAS ANDERE LEBEN (R: Rudolf Steinboeck, AT 1948) das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Erinnerung. Die Geschichte um die vertauschte Identität zur Rettung einer Jüdin thematisiert offen den damals noch weitgehend tabuisierten Holocaust. Es folgten – auch im Kino – lange Jahre des Schweigens, Vergessens und Verdrängens.
1983 startete die Wiener Regisseurin Ruth Beckermann ihre kinematographische Spurensuche nach Verbindungslinien der Kulturen mit jüdischer Identität. Diese Landvermessung führte sie zunächst in das historische Zentrum des jüdischen Lebens in der Wiener Leopoldstadt. Im Dokumentarfilm WIEN RETOUR (AT 1983) erinnert sich Franz West an das Leben auf der Mazzesinsel. In DIE PAPIERENE BRÜCKE (AT 1987) begibt sich Beckermann dann auf eine Reise zu den Herkunfts- und Gedächtnisorten der Anfang des 20. Jahrhunderts nach Wien gekommenen jüdischen Bevölkerung. Wie schon in den 1920er-Jahren grassiert auch im Wien der 1980er-Jahre der Antisemitismus. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Das filmische Gedächtnis der jüdischen Kultur und des jüdischen Lebens in Österreich zu befragen, mag auch zum Verständnis dafür beitragen, welche traumatische Erfahrung die Ereignisse des 7. Oktober 2023 in Israel gewesen sind. Die überlebenden Filmbilder der jüdischen Kultur vor 1938 und die audiovisuellen Zeugnisse der Überlebenden nach 1945 sind ein bleibendes Vermächtnis der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es zählt zur großen Verantwortung auch der Filmarchive, diese lebendi- gen Dokumente der Erinnerungskultur zu erhalten und immer wieder in die Öffentlichkeit zu tragen.
(Ernst Kieninger)