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Nachleben des Transzendentalen

Nachleben des Transzendentalen/ Afterlives of the Transcendental
Konzept und Organisation: Univ.-Prof. Dr. Antonia Birnbaum (Abteilung Philosophie) und Univ.-Prof. Helmut Draxler (Abteilung Kunsttheorie)

Im Begriff des Transzendentalen hatte Kant seine Reform der Philosophie im Sinne einer strengen Grenzziehung gegenüber jeder spekulativen Metaphysik und gleichzeitig als Grundlegung einer kritischen Theorie von Erkenntnis und Ethik fokussiert. Auch wenn dieses Projekt seine Glaubwürdigkeit als tatsächlich gelingende, kritische Fundierung einer nachmetaphysischen Weltsicht heute weitgehend verloren hat, so scheint doch das konzeptuelle Potenzial des Begriffs des Transzendentalen sich darin nicht zu erschöpfen. Denn keineswegs zieht das Transzendentale tatsächlich eine strenge Grenze hin zum Spekulativen der traditionellen Metaphysik; es lässt sich vielmehr selbst letztlich als ein spekulativer Begriff verstehen, der mit aller Spekulation Schluss zu machen verspricht.
Gerade als spekulativer Begriff wurde er bereits in der Nachkantischen Philosophie und Literaturtheorie – im Sinne der Bedingung der Möglichkeit spekulativer, anschaulicher oder intuitiver Erkenntnis – rezipiert und als besondere Qualität verstanden, mittels derer Begriff und Gegenstand, Unmittelbarkeit und Reflexion, das Endliche und das Unendliche oder Universale aufeinander bezogen bzw. sogar miteinander verschränkt werden konnten.
Wenn wir uns ausgehend von der These eines grundlegend spekulativen Moments im Kern des Begriffs des Transzendentalen mit dessen Nachleben, wie es sich von Heidegger bis Adorno, Foucault und Deleuze noch in die zeitgenössische Dimension von Philosophie einschreibt, beschäftigen wollen, dann geht es vor allem um zwei, miteinander korrelierende Fragen. Einerseits muss geklärt werden, wie das konzeptuelle Problem der Grenzziehung mit der semantischen, dynamisch-überschreitenden Dimension des Begriffs in Zusammenhang gebracht werden kann und andererseits, wie sich das Transzendentale als Schnittstelle zwischen einer „Grundlegung“ und deren Konstruktionen verstehen lässt, aus der die großen Kategorien des modernen Symbolischen wie Wissenschaft, Politik oder Kunst erst hervortreten. Es geht mithin um den jeweiligen Stellenwert der „transzendentalen Idee“ von Wissenschaft, Kunst und Politik im Verhältnis zu ihren empirischen Gegenständen, zu ihrem gemeinsamen Bedingungsfeld und zur Dynamik ihrer Entwicklung als besondere symbolische Formen der Moderne.

Dementsprechend soll die Tagung in drei Sektionen aufgeteilt werden, die sich dem epistemisch, dem künstlerisch-ästhetisch und dem politisch Transzendentalen widmen. Die Gemeinsamkeit liegt im Stellenwert der jeweiligen „transzendentalen Idee“ und den daraus folgenden theoretischen wie praktischen Konsequenzen.

Mit Beiträgen von: Antonia Birnbaum, Nathan Brown, Helmut Draxler, Peter Osborne, Rado Riha, Marc Rölli, Jelica Sumic Riha, Stella Sandford, Zeynep Türel, Jan Völker

In deutscher und englischer Sprache

Programm Tag 1
Donnerstag, 27. Oktober 2022

10:30 – 11:30 Uhr
Helmut Draxler: Einführung
Die Polis als transzendentales Prinzip. Über das Öffentliche als Grund und als Grenze
Kritisches Denken will sich meist darin bewähren, vorhandene dogmatische Strukturen zu ö nen um damit ein nicht-pri- vilegiertes oder nicht-kanonisiertes Sein zur Darstellung zu bringen. Dies setzt die Vorstellung einer ö entlichen Relevanz jeder philosophischen, politischen oder künstlerischen Rede voraus. Zumeist jedoch wird das Ö entliche nicht als Voraus- setzung, sondern als ein E ekt der eigenen Ansprüche und Aktivitäten verstanden, was wiederum leicht zur Idealisierung empirischer Sachverhalte wie sozialen Versammlungen oder kommunikativen, deliberativen bzw. partizipativen Praktiken führt. Gerade darin wird die Idee der Ö entlichkeit selbst zu einem dogmatischen Prinzip, in dem die Subjektpositionen, die Verfahren der Anerkennung und die sozialen Wirkungsfaktoren bereits im Vorhinein festgelegt sind. Demgegenüber kommt es darauf an, die Polis – als Inbegri einer Idee von Ö entlichkeit – als ein transzendentales Prinzip zu verstehen, mithin als immer schon vorausgesetzte, in der strukturellen Spaltung zwischen ö entlichen und privaten Seinsweisen veran- kerte Möglichkeitsbedingung jedes philosophisch-erkenntniskritischen, politischen oder künstlerischen Sprechens. Erst von hier aus lassen sich die Fragen nach dem Grund der Kritik und nach dem Umgang mit ihren Grenzen zwischen Immanenz und Transzendenz, Positivität und Negativität stellen. (E)

11.30 – 12.45 Uhr
Rado Riha
Das Transzendentale und die re ektierende Urteilskraft
Im Beitrag soll nachvollzogen werden, ob, und wenn ja, dann welche Änderungen der von der Philosophie Kants ausge- arbeitete Begri des Transzendentalen, also der Begri einer apriorischen Begründung der Möglichkeit von jeder Erfahrung und Erkenntnis, in Kants dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, erfährt. Der Beitrag sieht diese Änderungen bzw. Neue- rungen in der dritten Kritik im Begri eines irreduzibel Singulären, das die Stelle des jeweiligen Falls des re ektierenden Urteils annimmt. Der Beitrag wird nachzuweisen versuchen, dass gerade die Konzeptualisierung des irreduzibel singulären Falls den universellen Anspruch des re ektierenden Urteils auf verschiedenen Gebieten des menschlichen Denkens und Handeln möglich macht. (D)

12:45 – 14:00 Uhr
Stella Sandford
Transformationen im/vom Transzendentalen: Lévi-Strauss und Freud
In Wie erkennen wir den Strukturalismus? (1972) behauptete Deleuze bekannterweise, dass „der Strukturalismus nicht von einer neuen Transzendentalphilosophie getrennt werden kann, in der die Orte über das herrschen, was sie besetzt hält“.
In diesem Vortrag werden wir im Lichte von Deleuzes Behauptung fragen, wie Lévi-Strauss‘ Analyse des „totemistischen Operators“ (La pensée sauvage [1962]) als transzendental oder als zentraler Aspekt einer Philosophie der Transformationen im und vom Transzendentalen verstanden werden kann. Gleichzeitig werden wir untersuchen, ob, und wenn ja, wie dieses Lévi-Strauss‘sche Bild mit den Strukturen der Traumarbeit in Kapitel VI von Freuds Traumdeutung zusammenhängt und ob dies auch Freud in Deleuzes Anspruch einbezieht. (E)

Pause

15:30 – 16:45 Uhr
Jan Völker
Die geteilte Moderne: Plurale des Transzendentalen
Das Transzendentale in kantischer Tradition, als Begrenzung und Begründung der Möglichkeiten der Erfahrung, ist der Herausforderung seiner immanenten Pluralisierung ausgesetzt: Der Möglichkeit unterschiedlicher Subjekte mit unterschied- lichen Erfahrungen. Wenn aber Erfahrungsordnungen nicht einem allgemeinen Gesetz unterstellt und dennoch mit vollem Recht als Grundlagen von Wissen dienen sollen, dann müssen die transzendentalen Grenzen vervielfältigt werden, um überhaupt unterschiedliche Subjekte mit unterschiedlichen Erfahrungen zu denken. Die Möglichkeitsbedingungen können jedoch nur vervielfältigt werden, indem die Verwirklichung des Transzendentalen selbst aufgezeigt wird, indem also gezeigt wird, dass die transzendentale Ordnung eine eigene zeiträumliche Wirklichkeit entfaltet. Genau dies aber ist der E ekt von Freuds Verwirklichung der Psychoanalyse inmitten der Kant‘schen Ordnung von Raum und Zeit als Bedingungen der Er- fahrung. Hier, inmitten des Transzendentalen, hat die Psychoanalyse ihren Ort, den sie inwendig umstülpt und vervielfältigt und so der Moderne ihren Plural anweist. (D)

16:45 – 18:00 Uhr
Zeynep Türel
„und wenn mein Sagen auch für nichts ist, / So sprech‘ ich doch“. Hölderlins Antigonä als eine Poetik der Negativität
Hölderlins theoretische Schriften im Kontext der Sophokles-Übersetzungen, insbesondere die Anmerkungen zur Antigonä, können als eine Poetik der Negativität begri en werden, insofern als sie die Negation oder vielmehr die absolute Negation des Todes nicht nur als Prinzip und Movens der Handlung, sondern auch und vor allem als oberstes Prinzip der Darstellung eben jener Handlung aufzeigen. Unter dem Aspekt der Negativität betrachtet, erweist sich das für das Verständnis der Tragö- dientheorie Hölderlins zentrale Moment der Zäsur qua Riss der Zeit als Erfahrung der Negativität einerseits und qua „reines Wort“, das die Sukzession der Vorstellungen unterbrechend als die Vorstellung selbst erscheint, als Darstellung der Negativi- tät andererseits – eine Konstellation, die die Sprache als eigentliche Sphäre der Negativität zu begreifen erlaubt. (D)

Konferenz
Zeitgenössische Kunst
Theorie
arts (general)
27.10.2022 (Thu) - 28.10.2022 (Fri)
10:30 -