rewind.esel.at
Marlene Hausegger: Erledigt?

Begrüßung: Silvia Hruška-Frank,
Direktorin AK Wien
Zur Ausstellung: Stella Rollig, Generaldirektorin
Österreichische Galerie Belvedere
Live Performance: Cochlea

Im April 1880 verfasste Karl Marx einen »Fragebogen für Arbeiter« im Auftrag der Zeitschrift »La Revue socialiste«, als deren Sonderdruck die Liste der 101 Fragen – 99 von Marx, zwei ergänzt von den Herausgebern – in ganz Frankreich verbreitet wurde. Später wurde er zudem an sozialistische Organisationen zur Weiterverteilung geschickt. Dieser Aktion lag der Wunsch zugrunde, die Lage der französischen Arbeiterklasse mit wissenschaftlichen Mitteln zu untersuchen – mehr noch, die kapitalistische Ausbeutung durch Selbstaussagen der Ausgebeuteten drastisch darzulegen und gleichzeitig ihr Bewusstsein der eigenen Lage zu schärfen. Der Fragebogen gilt als eines der ersten Werke gesellschaftskritischer empirischer Sozialforschung. Obwohl zunächst von einigen Beantwortungen berichtet wurde, die nicht überliefert sind, kam es nie zu veröffentlichten Ergebnissen. Man muss davon ausgehen, dass der Rücklauf einfach zu gering war.

Marlene Hausegger greift eine Auswahl der Fragen auf, die sich erstaunlich aktuell darstellen, passt sie einer geschlechtergerechten Schreibweise an und ergänzt sie behutsam mit wenigen eigenen Sätzen. Der erste Eindruck im Foyer der AK Wien wird jedoch bestimmt von der raumdefinierenden Malerei über sechs Wandstücke hinweg: ein vielfarbiges Gewebe in deutlich handgemachter Umsetzung. Hier wurde nichts mit Schablonen vorbereitet, nichts vorgedruckt. Die Künstlerin arbeitet sich an der Fläche voran, wie die Arbeiter:innen an den Webstühlen, deren Elend im 19. Jahrhundert beispielhaft für die Brutalität der kapitalistischen Produktion steht, die bis heute herrscht – damals in Schlesien, heute in Bangladesch.

Marlene Hausegger symbolisiert mit diesem optimistisch-bunten Gewebe sozialen Zusammenhalt, Koexistenz und Solidarität. Sie entwirft eine wellenartige Struktur als eine Art Sicherheitsnetz, in das man sich, wie seine Ausbuchtungen zeigen, mit den eigenen Sorgen und Ängsten fallen lassen kann. »Was hält unser Beziehungsgefüge zusammen?«, fragt die Künstlerin. Sie zeigt sich davon überzeugt, dass Solidarität in der Arbeitswelt auch mehr als 140 Jahre nach der Formulierung des Marx’schen Fragebogens erst auf Grundlage der Erfassung der eigenen Arbeitsbedingungen entstehen kann.
»Erledigt?« Nichts ist erledigt. Der Kampf gegen die ungleiche Verteilung von Chancen auf ein gutes Leben, für lebenswerte Arbeitsbedingungen und gerechte Bezahlung bleibt notwendig, wichtig, unverzichtbar. Marlene Hauseggers Arbeit ist Aufruf und empathische Handreichung zugleich.
Stella Rollig

Eröffnung
Zeitgenössische Kunst
Bildende Kunst
arts (general)
31.05.2023 (Wed) - 31.10.2023 (Tue)
19:00 -